Wie ist der Chronotyp mit dem Depressionsrisiko verknüpft?

29. März 2024
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Bereits in den 1980er Jahren entdeckten Wissenschaftler, dass jede menschliche Körperzelle eine innere Uhr besitzt[1]. Diese biologische Uhr bildet die Grundlage für die verschiedenen Chronotypen, welche wiederum die individuellen Präferenzen für Aktivitäten zu bestimmten Tageszeiten und die Schlaf-Wach-Zyklen definieren. Die innere Uhr beeinflusst jedoch nicht nur das Schlafverhalten, sondern auch zahlreiche physiologische Prozesse und psychische Funktionen. Gleichzeitig ist die weltweite Prävalenz von Depressionen alarmierend hoch und stellt eine immense Herausforderung für die öffentliche Gesundheit dar. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und inwieweit der individuelle Chronotyp ein prädiktiver Faktor für das Auftreten und die Entwicklung von Depressionen sein könnte. Im Folgenden wird ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand gegeben und es werden die potenziellen Verknüpfungen zwischen Chronotyp und Depressionsrisiko beleuchtet.

Wie sich die drei Haupttypen der Chronobiologie unterscheiden

 Die innere Uhr tickt bei jedem Menschen etwas anders und spiegelt sich in den unterschiedlichen Chronotypen wider. In der Bevölkerung werden typischerweise drei Haupttypen differenziert: die „Lerchen“, die „Eulen“ und die „Normaltypen“. Lerchen bevorzugen einen frühen Start in den Tag und erleben ihr höchstes Leistungsvermögen in den Vormittagsstunden. Eulen hingegen zeigen eine Tendenz zu späteren Schlafenszeiten und sind am Abend sowie in der Nacht besonders aktiv und leistungsfähig. Die Normaltypen, umgangssprachlich auch als „Tauben“ bezeichnet, liegen dazwischen und favorisieren weder einen frühen noch einen späten Tagesbeginn. Im Alltag lassen sich die individuellen Chronotypen oft anhand von einfachen Verhaltensmerkmalen erkennen, wie beispielsweise der bevorzugten Zeit für Aktivitäten wie Essen, Sport oder produktive Arbeit. Lerchen starten in der Regel frühmorgens ohne Wecker in den Tag und erledigen ihre schwierigsten Aufgaben gerne am Vormittag. Da sie bereits in den frühen Abendstunden müde werden, gehen sie vergleichsweise früh zu Bett. Völlig gegensätzlich verhalten sich die Eulen: Ihr höchstes Aktivitätsniveau liegt in den Abendstunden, sie bleiben gerne lange wach, gehen sehr spät ins Bett und brauchen morgens stets einen Wecker, um rechtzeitig mit ihrem Tagwerk beginnen zu können. Neben der Identifizierung typischer Handlungsweisen können auch Online-Fragebögen dabei helfen, den eigenen Chronotyp sicher zu ermitteln.

Wie die Forschung die Verbindung zwischen Chronotyp und Depressionsrisiko untersuchte

 Die Frage, ob der Chronotyp das Depressionsrisiko beeinflusst, wurde durch zahlreiche Studien erforscht. Mittlerweile konnte der Zusammenhang nahezu vollständig entschlüsselt werden. Insbesondere eine vielzitierte Studie die im Sommer 2021 in der angesehenen Fachzeitschrift „Journal of the American Medical Association“ (JAMA) veröffentlicht wurde, lieferte die bisher beste Datengrundlage zur Beantwortung dieser Frage. In dieser wegweisenden Untersuchung verglichen Forscher des Broad Institute in Cambridge, Massachusetts die Genetik, den Tag-Nacht-Rhythmus und das Depressionsrisiko bei mehr als 697.000 Männern und Frauen europäischer Abstammung. Die für die Studie benötigten Daten stammten von der „UK Biobank“ und dem privaten US-Unternehmen „23andMe“. Die UK Biobank ist eine umfangreiche britische Datenbank, die Informationen über die genetische Veranlagung und Umwelteinflüsse bei der Entstehung von Krankheiten speichert. Das Genomik- und Biotechnologieunternehmen 23andMe ist vor allem für seine Gentests bekannt, welche es Privatpersonen ermöglichen, Informationen über ihre genetische Prädisposition für gesundheitsbezogene Themen zu erhalten. Von allen Studienteilnehmern lagen Informationen zu ihren Schlafgewohnheiten vor, und ein Teil der Testpersonen nutzte sogar mobile Schlaftracker. Darüber hinaus analysierten die Wissenschaftler 340 Genvarianten, die für ihren Einfluss auf die innere Uhr bekannt sind.

Kausaler Zusammenhang zwischen Schlafzeitpunkt und Depressionsrisiko

 Die US-Forscher fanden heraus, dass die Testpersonen, die aufgrund ihrer genetischen Veranlagung zu den Frühtypen gehörten, signifikant seltener an schweren Depressionen litten. Hospitalisierungen aufgrund einer Depression waren bei den Morgenmenschen weniger häufig. Dieser Zusammenhang zeigte sich unabhängig von der Gesamtschlafdauer. Die Studienautoren analysierten, dass eine Vorverlegung des Schlafmittelpunkts (die halbe Zeit zwischen dem Schlafengehen und dem Aufstehen) um eine Stunde das Depressionsrisiko um 23 Prozent senkte. Eine Person, die normalerweise erst um 1 Uhr nachts ins Bett geht, könnte folglich ihre Depressionswahrscheinlichkeit signifikant verringern, indem sie stattdessen bereits um Mitternacht schlafen geht und gleichzeitig ihre Schlafdauer beibehält. Die Studiendaten legten nahe, dass sich das Depressionsrisiko um etwa 40 Prozent senken lässt, wenn die Schlafenszeit noch weiter auf 23 Uhr vorverlegt wird. Das Forscherteam nutzte für seine Studie die sogenannte „mendelsche Randomisierung“ – eine epidemiologische Technik, die Unterschiede in der Genetik nutzt, um eine einfache Korrelation von einer Kausalität (Ursache-Wirkungs-Beziehung) zu unterscheiden. Die Autoren der Studie erklärten, dass ihre Ergebnisse eindeutig auf einen kausalen Effekt des Schlafzeitpunkts auf Depressionen hinweisen. Schon eine Stunde früheres Aufstehen und Zubettgehen kann das Depressionsrisiko entscheidend beeinflussen.

Wie sich Sonnenlicht am Morgen auf die psychische Gesundheit auswirkt

Es stellt sich die Frage, warum Spätrhythmiker einem höheren Risiko für Depressionen ausgesetzt sind. Die US-Forscher untersuchten diese Frage zwar nicht direkt, entwarfen aber zwei Hypothesen, die diesen Zusammenhang zu erklären versuchen. Es ist unbestritten, dass Spätaufsteher im Vergleich zu Morgenmenschen einer deutlich geringeren Tageslichtexposition ausgesetzt sind. Insbesondere das morgendliche Sonnenlicht spielt eine Schlüsselrolle, um späte innere Uhren nach vorne zu stellen. Natürliches Licht am Morgen synchronisiert die biologische Uhr des Menschen mit dem natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus und beeinflusst gleichzeitig die Ausschüttung von Hirnbotenstoffen, insbesondere von Serotonin, dem sogenannten „Glückshormon“[2]. Ein Mangel an Serotonin gilt als Treiber für klinische Depressionen[3]. Frühaufsteher, die im Vergleich zu den Spättypen häufiger ihr Bewegungspensum bereits in den frühen Morgenstunden absolvieren, können folglich mehr morgendliches Sonnenlicht absorbieren als Abendmenschen. Sie tanken mehr Sonnenlicht am Morgen, während Spätaufsteher zwangsläufig mehr Zeit in Innenräumen verbringen. Diese langfristig geringere Exposition gegenüber dem natürlichen Morgenlicht könnte sich im Laufe der Zeit auf das Depressionsrisiko auswirken.

Die Rolle des sozialen Jetlags auf depressive Symptome

 Als zweite Hypothese für die erhöhte Depressionswahrscheinlichkeit der Spättypen führten die US-Wissenschaftler den sogenannten „sozialen Jetlag“ an. Dieser Begriff beschreibt die Diskrepanz zwischen dem biologischen Schlaf-Wach-Rhythmus einer Person und den gesellschaftlichen Zeitplänen. Während die innere Uhr der Eulen spätere Aufstehzeiten und Aktivitäten bedingt, orientiert sich die soziale Uhr, die von gesellschaftlichen Normen und Zeitplänen bestimmt wird, eher am Rhythmus der Lerchen. Beispielsweise werden Schul- oder Arbeitsbeginn häufig um 8:00 Uhr oder 9:00 Uhr angesetzt. Für Nachtmenschen ist dies jedoch meist deutlich zu früh und stellt eine große Herausforderung dar, da sie gezwungen werden, ihre Aktivitäten entgegen ihrer biologischen Neigung anzupassen. Infolgedessen sind Spätaufsteher einem erheblichen sozialen Jetlag ausgesetzt. Die Schwierigkeiten, sich an den frühen Tagesrhythmus zu adaptieren, können das Risiko für Depressionen bei Spätrhythmikern ansteigen lassen. Die Diskrepanz zwischen der biologischen und der gesellschaftlichen Uhr erhöht das Risiko für depressive Symptome und könnte ein entscheidender Faktor für die höhere Depressionsprävalenz bei Abendmenschen sein[4].

Wie natürliches Licht und Schlafhygiene die mentale Gesundheit fördert

Die wissenschaftliche Erkenntnis ist eindeutig: Spätaufsteher haben ein erhöhtes Risiko für Depressionen, hauptsächlich aufgrund ihres vermehrten sozialen Jetlags und der geringeren Exposition gegenüber morgendlichem Sonnenlicht. Abendmenschen stellt sich die Frage, wie sie ihre Depressionswahrscheinlichkeit mindern können. Obwohl der Chronotyp genetisch bedingt ist und sich nicht verändern lässt, können Spätrhythmiker ihren Lebensstil anpassen, um den sozialen Jetlag zu verringern. Im Blogbeitrag vom 18.06.2022 sind geeignete Strategien zur Bewältigung des sozialen Jetlags beschrieben. Zusätzlich sollten Eulen darauf achten, morgens ausreichend Sonnenlicht zu tanken, etwa indem sie ihren Morgenkaffee im Freien genießen oder den Weg zur Arbeit zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen. Eine ausreichende Exposition gegenüber natürlichem Licht fördert nicht nur die körperliche Gesundheit, sondern kann auch den Schlaf-Wach-Rhythmus regulieren. Abschließend ist es sowohl für Frühtypen als auch für Spättypen ratsam, die Regeln der Schlafhygiene (siehe Blogbeitrag vom 19.03.2019) zu befolgen. Ein biologisch gesunder Schlaf erhöht die Resilienz und reduziert somit das Risiko für Depressionen.

 

Anmerkungen:

[1] Cell, Volume 38, Ausgabe 3, Okt. 1984, S. 701-710: P. ReddyW. A. ZehringD. A. WheelerV. PirrottaC. HadfieldJ. C. HallM. Rosbash: „Molecular analysis of the period locus in Drosophila melanogaster and identification of a transcript involved in biological rhythms“

[2] The Lancet, Volume 360, Ausgabe 9348, Dez. 2002, S. 1840-1842: G. W. LambertC. ReidD. M. KayeG. L. JenningsM. D. Esler: „Effect of sunlight and season on serotonin turnover in the brain“

[3] International Clinical Psychopharmacology, Volume 9, Beilage 4, Jan. 1995, S. 41-45: D. BaldwinS. Rudge: „The role of serotonin in depression and anxiety“

[4] Chronobiology International, Volume 28, Ausgabe 9, Nov. 2011, S. 771-778: Rosa LevandovskiGiovana DantasLuciana Carvalho FernandesWolnei CaumoIraci TorresTill RoennebergMaria Paz Loayza HidalgoKarla Viviani Allebrandt: „Depression scores associate with chronotype and social jetlag in a rural population“