Wie „misst“ man eigentlich Müdigkeit?

15. Juli 2023
AdobeStock_Tagesmuedigkeit_72719080-min-1200x800.jpeg

Mehr als 80% der Menschen, die von Schlafapnoe betroffen sind, leben unwissentlich mit dieser Erkrankung, da sie ihre Symptome, insbesondere die Tagesmüdigkeit, oft nicht als alarmierend empfinden[1]. Diese Realität verdeutlicht die Problematik einer trügerischen subjektiven Wahrnehmung von Müdigkeit. Es ist bekannt, dass sich die Verschlechterung der Wachheit bei Menschen mit Schlafapnoe nur äußerst langsam entwickelt. Diese Erkenntnis wirft die Frage auf, wie Müdigkeit überhaupt objektiv gemessen werden kann. In einer Welt, in der das eigene Empfinden oft als verlässlicher Ratgeber angesehen wird, entsteht hier eine paradoxe Situation. Ein tieferes Verständnis darüber, wie Müdigkeit erfasst werden kann, selbst wenn sie unbemerkt bleibt, ist jedoch von entscheidender Bedeutung. Schließlich ist die Diagnosestellung der Schlafapnoe die Grundvoraussetzung für deren Therapie. Nur durch eine adäquate Behandlung können potenzielle Folgeerkrankungen wie Schlaganfälle und Herzinfarkte verhindert werden. In diesem Beitrag wird die Frage beantwortet, mit welchen Verfahren die Wachheit eines Individuums wissenschaftlich quantifiziert werden kann. Derartige Testverfahren sind von hoher Relevanz, da sie mehr Betroffenen die Möglichkeit bieten, ihre Krankheit zu erkennen und zu diagnostizieren.

Warum ist es so schwer Müdigkeit wahrzunehmen?

Die Bewertung und Wahrnehmung von Müdigkeit stellen eine komplexe Herausforderung dar. Das „Boiling Frog Syndrom“ veranschaulicht den Gewöhnungseffekt, bei dem Veränderungen, die langsam und schleichend auftreten, kaum bemerkt werden. Ähnlich wie ein Frosch, der sich an die langsam steigenden Wassertemperaturen in einem Topf gewöhnt und selbst dann nicht flüchtet, wenn das Wasser bereits kocht, gewöhnen sich auch Schlafapnoiker allmählich an ihre langsam zunehmende Müdigkeit und betrachten sie als normalen Teil ihres Alltags. Dadurch ist es ihnen nahezu unmöglich zu erkennen, dass ihre Müdigkeit über das übliche Maß hinausgeht.

Tatsächlich sind die meisten Menschen sogar davon überzeugt, dass sie Veränderungen in ihrer Wachheit sehr gut einschätzen können. Dieses Narrativ wird beispielsweise durch die Symptome der postprandialen Somnolenz (umgangssprachlich auch als „Suppenkoma“ oder „Schnitzelkoma“ bekannt) unterstützt. Menschen, die nach einer üppigen Mahlzeit einen plötzlichen und deutlichen Anstieg ihrer Müdigkeit erleben, sind sich dessen bewusst. Diese drastische Veränderung innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums ist also leicht wahrnehmbar und lässt die Müdigkeit als ungewöhnlich und bemerkenswert erscheinen.

Diese Beispiele verdeutlichen, warum es so schwierig ist, Müdigkeit objektiv einzuschätzen. Die subjektive Wahrnehmung kann durch individuelle Unterschiede, Gewöhnungseffekte und andere Faktoren wie das Stressniveau oder psychische Belastungen beeinflusst werden. Menschen neigen dazu, Veränderungen innerhalb kurzer Zeit stärker wahrzunehmen, während sie sich an langsame Veränderungen gewöhnen und diese als normal empfinden.

Der Multiple Schlaflatenztest (MSLT)

Als Standardverfahren zur apparativen Diagnostik der Tagesmüdigkeit gilt der Multiple Schlaflatenztest (MSLT), der bereits in den 1970er Jahren an der Stanford Universität entwickelt wurde[2]. Bei diesem Test liegt der Patient wie bei der nächtlichen Polysomnographie (Schlaflaboruntersuchung) in einem ruhigen, vollständig abgedunkelten Raum und ist über Elektroden mit Messgeräten verbunden. Das Ziel besteht darin, einzuschlafen, während Sensoren den Schlafbeginn registrieren. Der MSLT misst während des Tages in fünf Durchgängen alle zwei Stunden die Einschlafgeschwindigkeit des Patienten mittels EEG (Elektroenzephalogramm). Der Test ist dabei auf eine Dauer von 20 Minuten begrenzt. Sobald der Proband eingeschlafen ist, wird er von den Mitarbeitern im Schlaflabor sofort wieder aufgeweckt, um eine Beeinflussung seiner Einschlafneigung in den nachfolgenden Tests zu vermeiden.

Die Auswertung des MSLT erfolgt anhand der Zeit, die für das Einschlafen benötigt wurde, und wird in Minuten gemessen. Wenn eine Person innerhalb von 20 Minuten nicht einschläft, erhält sie eine Bewertung von 20. Auf diese Weise wird im Verlauf des Tages der genaue Zeitpunkt für die „größte Wachheit“ ermittelt. Das Einschlafen innerhalb der ersten fünf Minuten deutet auf ein Schlafdefizit und erhöhte Müdigkeit hin. Eine Einschlafzeit von fünf bis zehn Minuten verdeutlicht den Grenzbereich zum Schlafdefizit, während eine Zeit von zehn bis fünfzehn Minuten auf eine akzeptable Schlafschuld hinweist. Eine Einschlafzeit von 15 bis 20 Minuten steht hingegen für eine ausgezeichnete Wachheit und Aufmerksamkeit. Die langjährige Praxiserfahrung mit dem Multiplen Schlaflatenztest belegt eine direkte, lineare Verbindung zwischen der durchschnittlichen Schlafdauer und der Veränderung der MSLT-Werte. Das bedeutet, dass Menschen mit weniger Schlaf tendenziell schneller einschlafen, wobei die Geschwindigkeit des Einschlafens proportional zum Ausmaß des Schlafverlustes der vorangegangenen Nächte steht. Hierdurch kann das Schlafdefizit einer Person genau gemessen werden. Es ist jedoch zu beachten, dass die Aktivität des Patienten zwischen den einzelnen Tests einen erheblichen Einfluss auf dessen gemessene Einschlaflatenz hat. Physiologische Erregung kann den Drang einzuschlafen während der Messung maskieren. Selbst eine Tasse Kaffee oder auch nur ein anregendes Telefonat zwischen den Tests kann die Ergebnisse deutlich verfälschen. Auch externe Umstände wie Lärm, Licht oder andere Störfaktoren können die Messgenauigkeit beeinflussen. Zusätzlich zu den genannten Einschränkungen ist der MSLT auch sehr zeitaufwendig und vergleichsweise kostenintensiv.

Der Multiple Wachbleibetest (MWT)

Der Multiple Wachbleibetest (MWT) entwickelte sich 1982 aus dem MSLT und stellt letztlich eine Abwandlung dieses Tests dar[3]. Im Gegensatz zum Multiplen Schlaflatenztest, der die Einschlafneigung untersucht, fokussiert sich der MWT auf die Fähigkeit, wach zu bleiben. Während der Messung sitzt der Patient bei Dämmerlicht in einer reizarmen Umgebung und soll versuchen, dem Einschlafdrang so lange wie möglich zu widerstehen. Der Teilnehmer wird während des Tests aufgefordert, ruhig zu sitzen, die Augen geöffnet zu halten und jegliche Maßnahmen zur Stimulierung seiner Wachheit, wie etwa Singen, Kneifen oder Aufstehen, zu unterlassen. In insgesamt vier Durchgängen, die im Abstand von zwei Stunden stattfinden und entweder 20 oder 40 Minuten dauern, registrieren Sensoren, ob und zu welchem Zeitpunkt der Proband einschläft. Im Vergleich zum MSLT weist der MWT einige relevante Unterscheidungsmerkmale auf. Die Körperhaltung des Probanden ist hier sitzend anstatt liegend, die Kopfhaltung wird durch eine Nackenrolle unterstützt, die Augen bleiben offen, der Raum ist gedämpft beleuchtet anstelle von völliger Dunkelheit, und die Vorgabe lautet „wach bleiben“ statt „einschlafen“. Eine verkürzte Wachbleibedauer beim MWT weist auf eine beeinträchtigte Wachheit und somit erhöhte Müdigkeit hin. In den letzten Jahren hat dieser Test an Bedeutung gewonnen, insbesondere bei der Überprüfung der Einschlafneigung von Berufskraftfahrern[4]. Durch eine präzise Durchführung und sorgfältige Interpretation der Ergebnisse kann der MWT dazu beitragen, eine individuell angepasste Therapie für Patienten mit Müdigkeitsproblemen zu entwickeln und deren Lebensqualität zu verbessern.

Der Vigilanztest

Zur objektiven Messung von Tagesmüdigkeit wird häufig auch der sogenannte Vigilanztest (von lateinisch vigilantia, „Wachsamkeit“) eingesetzt. Dieser Test dauert in der Regel 20 bis 40 Minuten und erfordert vom Teilnehmer, spezifische Aufgaben auf einem Bildschirm auszuführen. Dabei handelt es sich oft um eine einfache Reaktionstestaufgabe, bei der der Proband auf visuelle oder akustische Signale reagieren muss. Der Vigilanztest erfasst verschiedene Messwerte wie Reaktionszeiten, Fehlerhäufigkeit und die Fähigkeit, Signale zu erkennen. Er zielt darauf ab, die Daueraufmerksamkeitsleistung einer Person in monotonen und reizarmen Situationen zu überprüfen[5]. Verlängerte Reaktionszeiten und eine erhöhte Fehlerhäufigkeit deuten auf eine beeinträchtigte Aufmerksamkeit hin, die auf Müdigkeit infolge von Schlafmangel zurückzuführen sein kann. Schlafgestörte Patienten reagieren aufgrund ihrer Tagesmüdigkeit oft verlangsamt, ungenau oder zeigen sogar kurze Schlafepisoden während des Tests. Die Interpretation der Ergebnisse erfolgt anhand von Normwerten oder Vergleichsdaten aus einer gesunden Kontrollgruppe, wobei Abweichungen auf erhöhte Müdigkeit und beeinträchtigte Aufmerksamkeit hinweisen.

Der Epworth Sleepiness Scale (ESS)

Neben den apparativen Methoden gibt es auch zahlreiche Fragebogen zur Bestimmung der Tagesschläfrigkeit. Der Epworth Sleepiness Scale (ESS) ist dabei der bekannteste. Mit acht einfachen Fragen beurteilt er die Wahrscheinlichkeit des Einschlafens in verschiedenen Alltagssituationen wie Lesen oder Fernsehen. Die Bewertung erfolgt auf einer Skala von 0 bis 3, wobei 0 „nie“ und 3 „hohe Wahrscheinlichkeit“ bedeutet. Die Ergebnisse der acht Fragen werden addiert, um einen Gesamtwert zu erhalten. Je höher der Punktwert, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass eine behandlungswürdige Schlafstörung (zum Beispiel Schlafapnoe) vorliegt. Der ESS ist schnell und einfach durchzuführen und erfordert keine technischen Hilfsmittel. Er bietet eine erste grobe Einschätzung zur Tagesschläfrigkeit, kann jedoch nicht zwischen verschiedenen Ursachen der Müdigkeit differenzieren. Zudem ist zu beachten, dass der ESS keine objektive Erfassung der Tagesmüdigkeit ermöglicht, da die Antworten von der subjektiven Einschätzung des Patienten abhängen. Daher sollte er nicht als alleiniges diagnostisches Instrument verwendet werden, sondern lediglich als erster Anhaltspunkt für weitere Untersuchungen dienen.

Krankheitsbewusstsein als Voraussetzung für zielgerichtete Therapie

Die objektive Messung von Müdigkeit ist keineswegs trivial. Im Gegensatz zur einfachen Bestimmung des Alkoholspiegels gestaltet sich die zuverlässige Feststellung von Schläfrigkeit als herausfordernd. Daher sind aufwendige Verfahren wie der MSLT, MWT oder Vigilanztest erforderlich, um die Wachheit einer Person zu quantifizieren. Diese Tests dienen dazu, Müdigkeit objektiv zu erfassen und eine solide Grundlage für die Diagnose möglicher Schlafstörungen zu schaffen. Die Anwendung solcher Testverfahren ist von enormer Wichtigkeit, um Betroffenen dabei zu helfen, unbemerkte Müdigkeit zu erkennen. Letztendlich hängt die gezielte Therapie einer Erkrankung davon ab, dass der Patient auch ein angemessenes Bewusstsein für seine Krankheit entwickeln kann.

 

Anmerkungen:

[1] Sleep Medicine, Volume 10, Ausgabe 7, Aug. 2009, S. 753-758: Kevin J. FinkelAdam C. SearlemanHeidi TymkewChristopher Y. TanakaLeif SaagerElika Safer-ZadehMichael BottrosJacqueline A. SelvidgeEric JacobsohnDebra PulleyStephen DuntleyColleen BeckerMichael S. Avidan: „Prevalence of undiagnosed obstructive sleep apnea among adult surgical patients in an academic medical center“

[2] Sleep Research, Volume 6, Ausgabe 1, 1977, S. 200-207: Mary A. Carskadon, Wiliam C. Dement: „Sleep tendency: an objective measure of sleep loss.“

[3] Electroencephalography and Clinical Neurophysiology, Volume 53, Ausgabe 6, Juni 1982, S. 658-661: Merrill M. Mitler, Krishnareddy S. Gujavarty, Carl P. Browman: „Maintenance of wakefulness test: A polysomnographic technique for evaluating treatment efficacy in patients with excessive somnolence.“

[4] Somnologie, Volume 14, Ausgabe 3, Mai 2010, S. 170-177: C. Sauter, H. Danker-Hopfe: „Der Multiple Wachbleibetest (MWT)“

[5] Praxis und Klinik der Pneumologie, Volume 41, Ausgabe 10, Okt. 1987, S. 401-405: F. Schwarzenberger-KesperH. BeckerT. PenzelJ. H. PeterK. WeberP. von Wichert: [Excessive daytime sleepiness in apnea patients–diagnostic significance and objective assessment using the vigilance test and synchronous EEG recording during the day]